Nicht-Beteiligung

Erklärungsversuche für Nicht-Beteiligung

Nicht-Beteiligung


„Weil sie nicht können“

Soziostrukturelle Erklärungsmodelle 

Soziostrukturelle Erklärungsmuster für Nicht-Beteiligung sind in der Literatur am stärksten vertreten und beziehen sich auf soziologische und philosophische Theorien von Inklusion und Exklusion. In teils sehr unterschiedlichen Schattierungen wird die These vertreten, dass gesellschaftliche Bedingungen die Beteiligungswahrscheinlichkeit bestimmter sozialer Gruppen verringern. Analytisch lassen sich dabei zwei wesentliche Perspektiven unterscheiden, die aber durchaus zusammenspielen. 

Ressourcenbasierte Erklärungsansätze finden Gründe für Nicht-Beteiligung vor allem in der (mangelnden) Ausstattung von Gruppen mit sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital. Armut, geringe Bildung und mangelnde soziale Integration definieren für gesellschaftliche Gruppen eine „relative Benachteiligung in der politischen Interessenkonkurrenz, die aus einer Minderausstattung mit den für die Artikulations-, Organisations-, Mobilisierungsund Durchsetzungsfähigkeit notwendigen sozialen Eigenschaften resultiert” [2]. Diese asymmetrische soziale Disposition erzeugt wiederum auf verschiedenen Ebenen Beteiligungshemmnisse für die Betroffenen: von Ohnmachtsgefühlen und -erfahrungen über politisches Desinteresse und Apathie, gesellschaftliche Zuschreibungen und Marginalisierungen bis zu der Feststellung, ‚andere Sorgen’ zu haben, als an Beteiligungsverfahren teilzunehmen. 

Hegemoniebasierte Erklärungsansätze nehmen ihren Ausgang zwar auch bei strukturellen Asymmetrien, erklären Nicht-Beteiligung allerdings vornehmlich kulturalistisch: Beteiligungsverfahren finden demnach in einem ganz bestimmten Komplex von Werten und Normen statt, die denen der hegemonialen gesellschaftlichen Gruppen entsprechen. Ein rationales, deliberatives Diskussionsverständnis bevorzugt so jene Interaktionsformen, die denen der sozial besser gestellten Gruppen entsprechen. Menschen, denen es an Erfahrungen und Kompetenzen mit diesen Interaktionsformen (rationale, ‚entkörperlichte’ Argumentationen) mangelt, finden wesentlich schwerer einen Zugang als solche, die diese Formen habituell erlernt haben. Wichtig ist dabei, dass es bei den mangelnden Fähigkeiten und Kompetenzen nicht um individualisierende Erklärungen geht, sondern die strukturelle Benachteiligung als Begründung herangezogen wird. 

Empirisch belegt wird diese Perspektive beispielsweise durch den Milieuansatz, der soziostrukturelle und soziokulturelle Bedingungen in Form der Milieus miteinander verbindet. Eine habituelle Hegemonie elitärer Milieus und dem gesellschaftlichen Mainstream drückt sich dadurch aus, dass sich besonders experimentelle und prekäre Milieus bei denen, die sich engagieren, nicht willkommen fühlen. 


„Weil sie nicht wollen“

Individualistische Erklärungsmodelle 

Einen individualistischen Zugang zur Nicht-Beteiligung bietet die Studie „Betroffen, aber nicht aktiv?“ (Haß et al., 2014): Die Autoren führten qualitative Interviews mit Nicht-Beteiligten aus verschiedenen Beteiligungsverfahren und wählten dabei einen akteurszentrierten Ansatz zur Bestimmung von Nicht-Beteiligung. Aus den geführten Interviews destilliert die Studie fünf wesentliche Gründe für Nicht-Beteiligung bei Menschen, die von einem Beteiligungsverfahren tatsächlich betroffen sind. Demnach gibt es erstens Lebensphasen, in denen nach eigener Einschätzung der Betroffenen die Kompetenz (Jugend) oder die Berechtigung (Alter) fehlt, sich bei Zukunftsfragen einzubringen. Zweitens ist ein normativer Anspruch zur Beteiligung zwar internalisiert, Nicht-Beteiligung wird aber durch privates Engagement und Verpflichtungen gerechtfertigt oder mit eigener Faulheit begründet. Drittens spielt ein subjektives Gefühl von Machtlosigkeit eine Rolle. Viertens wird Überforderung durch die Komplexität der Thematik angeführt. Fünftens und letztens wird Engagement an zivilgesellschaftliche Akteure delegiert. 

Eher biographische Begründungsmuster liefern Frankenberger et al. (2015). Demnach sind neben der Sozialisation in einem politischen Elternhaus vor allem biographische Schlüsselerlebnisse entscheidend für soziales und politisches Engagement (ebd., S. 181). 


„Weil sie nicht gefragt werden“

Verfahrensbezogene Erklärungsmodelle 

Gründe für Nicht-Beteiligung können auch im Beteiligungsverfahren selbst liegen. So kann es sein, dass aus unterschiedlichen Gründen kein Zugang gefunden wird, obwohl eine generelle Bereitschaft vorhanden ist. Dazu zählen unter anderem die Rahmenbedingungen eines Beteiligungsverfahrens: begrenzte Anzahl der Teilnehmenden; die Art der Kommunikation (Auswahl und Einladung der Teilnehmenden), die je nach Medium nur bestimmte Zielgruppen erreicht; Zeiten, die Menschen aufgrund beruflicher oder familiärer Verpflichtungen ausschließen sowie eine Methodenauswahl, die beispielsweise manche Personen abhalten, sich einzubringen, weil sie nicht vor einer größeren Gruppe sprechen möchten. Bei Online-Verfahren kommen die Notwendigkeit eines Internetzugangs und Nutzungskompetenzen hinzu. 

Weitere verfahrensbezogene Nicht-Beteiligungsfaktoren hängen mit der Qualität und der Ausgestaltung der Verfahren zusammen. Dies ist dann gegeben, wenn Beteiligungsverfahren mit anderen Engagementmöglichkeiten konkurrieren. Besonders bereits aktive Menschen haben nur ein begrenztes Zeitbudget und sind in andere zeitintensive Aktivitäten eingebunden. Beteiligungsverfahren sind zuweilen einfach nicht attraktiv genug, um vorhandene Engagementpotenziale zu mobilisieren. 

Schlechte Erfahrungen mit Beteiligungsverfahren können ein weiterer Grund für Nicht-Beteiligung sein. Wer einmal festgestellt hat, dass seine Stimme kein Gewicht hatte, seine Interessen nicht gehört oder in der Umsetzung ignoriert wurden, wird zukünftig eine höhere Hürde zur erneuten Teilnahme haben. Ähnlich können auch das Verhältnis von Aufwand und Nutzen bzw. die erwartete (geringe) Wirksamkeit Gründe für eine Nicht-Teilnahme sein. 

Auch das Thema oder der Gegenstand eines Beteiligungsverfahrens spielt eine Rolle: „Hat die kommunale Planung, hat die örtliche Politik Themen zu verhandeln (und aus eigener Macht zu entscheiden), die die Lebenslage zum Beispiel der marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen wirklich betreffen?” [3]. Die Teilnahme an einem Beteiligungsverfahren ist demnach auch an die Relevanz für das eigene Lebensumfeld gekoppelt. 


[1] Alcántara et al., 2014, S. 16

[2] von Winter & Willems, 2000, S. 14

[3] Selle, 2011, S. 8